Die Turmuhr des Rathauses in Schriesheim bei Heidelberg (D)

Erste Erkenntnisse

Im Oktober des Jahres 2009 erreichte mich ein E-Mail des Ehrenpräsidenten der Deutschen Gesellschaft für Chronometrie (DGC), Dipl.-Volksw. Klaus Schlaefer: Am  Bauhof der Stadt Schriesheim sei unter allerlei Müll eine verrostete Turmuhr entdeckt worden. Herr Schlaefer schickte mir eine Reihe von Fotos und bat mich, für dieses Werk eine Expertise zu erstellen.

Das Rathaus in Schriesheim

Bei Durchsicht der Fotos war mir anhand verschiedener konstruktiver und stilistisch formaler Merkmale sofort klar, daß diese Turmuhr sicher noch um die Mitte des 15. Jahrhunderts, wenn nicht noch früher entstanden ist. Sollte sich meine Annahme bestätigen, ist dieses Werk die derzeit älteste bekannte Turmuhr im deutschen Sprachraum. Diese Entdeckung fand  in den regionalen Medien auch ein entsprechendes Echo. Anfang des Jahres wurde ich mit der Restaurierung der Uhr beauftragt. Um die  Authentizität des Werkes zu erhalten, sollen die Werksteile nur entrostet und konserviert werden. Auch soll im Zuge der Restaurierung überprüft werden, ob die Uhr wieder gehfähig gemacht werden kann. Dazu müßten einige fehlende Teile ergänzt werden. Nach anfänglichen Finanzierungsproblemen konnte ich Anfang September die Uhr in die Werkstätten der Uhrenstube Aschau bringen.

Wegen der Größe des Werkes (ca. 61x76cm und ca. 136cm hoch) und dessen massiver Konstruktion, konnte die Uhr nicht als Ganzes im Kofferraum meines PKW-Kombi untergebracht werden. So mußte sie an Ort und Stelle in ihre Einzelteile zerlegt werden. Ein weiteres Problem war der Zusammenbau der Teile in der Schmiede der Uhrenstube, da die Gestellrahmen so schwer waren, daß ich sie allein nicht auf die erforderliche Höhe heben konnte. So mußte an der Decke der Schmiede einen elektrischen Seilhebezug montiert werden, danach ging der Zusammenbau problemlos vor sich. Derzeit wird eine genaue Bestandsaufnahme gemacht, die Gestellteile auf ihre ursprüngliche Fassung (Farbanstrich) untersucht, sowie die geplanten Restaurierungsmaßnahmen festgelegt.

Parallel zu meinen Untersuchungen der historisch-formalen und konstruktiven Charakteristika dieser Turmuhr, wird Herr Schlaefer in Zusammenarbeit mit dem Archivar der Stadt Schriesheim, Herrn Dr. Hans Jörg Schmidt die archivalischen Quellen zu der Geschichte dieser interessanten Uhr erforschen.

Stand der Forschungen 2011

Die Auswertung der Forschungen von Dr. Hans Jörg Schmidt, dem früheren Stadtarchivar der Stadt Schriesheim, brachten neue, sehr interessante Erkenntnisse zur Geschichte der Schriesheimer Turmuhr. Herr Dipl. Volksw. Klaus Schlaefer, Ehrenpräsident der DGC, kontaktierte mehrere Fachleute und publizierte deren Kommentare gemeinsam mit meinen Erkenntnissen, die ich im Zuge der Restaurierung dieser Uhr gewinnen konnte, im Schriesheimer Jahrbuch 2011. Archivalien zufolge wurde die Schriesheimer Turmuhr 1687 von der Kurfürstlichen Kanzlei in der Festung Friedrichsburg bei Mannheim erworben. Sie galt bereits damals als „allte Uhr“. Rückwirkend bis zu diesem Zeitpunkt ist die Geschichte der Uhr urkundlich recht gut belegt. Für weitere Schlüsse sind sowohl die Herrschaftsgeschichte der Pfalz, als auch die konstruktiv-formalen Merkmale der Uhr zu betrachten. Weiter kann angenommen werden, daß ein Standortwechsel der Uhr vermutlich nur innerhalb des Herrschaftsbereiches der Kurfürsten erfolgte.

Die eindeutig gotischen Merkmale der Uhr weisen in das 15. Jahrhundert. Um 1450 wurde das Jagdschloss Friedrichsburg, die Sommerresidenz Kurfürst Friedrich I., dem „Siegreichen“ erbaut. Eine Anfertigung der Uhr in der Mitte des 14.Jh. für dieses Jagdschloss erscheint daher durchaus wahrscheinlich.

  • Die Turmuhr des Rathauses in Schriesheim und Ing. Wolfgang Komzak (Foto: Wolfgang Komzak)

    Friedrich I. hat für den Bau der Turmuhr seines Jagdschlosses (wenn diese eine hatte) ziemlich sicher einen „deutschen“ Uhrmacher engagiert. Konstruktive Konzeption und formale Details lassen vermuten, dass dieser aus dem Elsaß kam. Zumal der Elsaß bis Mitte des 15. Jahrhundert Teil des Hl. Römischen Reiches deutscher Nation war und erst dann an Frankreich abgetreten wurde.

  • die Zerstörungen des Jagdschlosses 1504 (durch Brand), aber wahrscheinlicher die Vandalenakte von 1622 werden vermutlich das Werksgestell (Herabwerfen vom Turm) so verzogen haben, daß ein Ausschmieden des einen Eckpfeilers der Uhr notwendig wurde, um dem Werk einen sicheren Stand zu gewährleisten.
  • ob die Veränderung des Räderwerkes bereits 1504, 1622, oder erst 1687 nach der Abholung von der neuen Feste Friedrichsburg nach Schriesheim erfolgte, kann erst eine Auswertung der Bohrungen der Lagerbänder zeigen. Ich vermute aber, auch aufgrund der bekannten Kosten, dass die umfaßende Veränderung des Räderwerkes bereits 1622, also noch vor dem Ankauf durch die Stadt Schriesheim erfolgt ist.

Damit wäre ein weiterer Schritt zur Erforschung der Geschichte der Schriesheimer Turmuhr gelungen. Ein wichtiger Hinweis von Frau Brigitte Vinzenz, Konservatorin der Uhrensammlung Kellenberger in Winterthur (Ch) bestätigte meine Vermutung, daß die Schriesheimer Turmuhr im Elsaß entstanden sein könnte.

Stand der Forschungen 2013

Turmuhr von Schriesheim

Im Zuge der Restaurierung der Turmuhr von Schriesheim, der vermutlich ältesten Turmuhr Deutschland aus der Mitte des 15. Jahrhunderts konnten einige sehr interessante Erkenntnisse bezüglich Provenienz und konstruktiver Entwicklung gewonnen werden. So können nach der Bauphase des Werkes noch zwei wesentliche Veränderungsphasen, viele kleine Reparaturen, bzw. eine abschließende Phase mit einer fachlich wenig qualitätvollen „Verbesserung“ des Werkes festgestellt werden. Sowohl bei der 1., als auch der 2. Änderung wurden vermutlich Sekundärbauteile von anderen Turmuhren verwendet.

Die erste Umbauphase dürfte meines Erachtens 1687, im Zuge des Ankaufs der Turmuhr von der Feste Friedrichsberg bei Mannheim durch die Stadt Schriesheim erfolgt sein. Dieser Umbau wurde von einem Wormser Turmuhrmacher ausgeführt, der sie dann auch lieferte.

Bauphase Mitte 15. Jahrhundert, Spindelgang mit Waag. Aus dieser Zeit sind das Gestell mit den Lagerbändern, Boden- und Hebstiftenrad samt Seiltrommeln und den Resten des Haspelaufzuges erhalten. Vermutlich auch Achse und Volltrieb des Herzrades und der Windfang (kleeblattförmige Fächer). Reste des Haspelaufzuges am Gesperre der Seiltrommeln.

Links der ausgeschmiedete Eckpfeilerfuß, rechts ein Pfeiler mit originaler Profilierung (Foto: Wolfgang Komzak)

1. Änderung Ende 17. Jahrhundert.
Umfassender Umbau auf Spindelgang mit Kurzpendel. Die seitlichen Lagerbänder mit dem Hebelwerk und den Hebelkonsolen, sowie das Anlaufrad mit der Herzscheibe und die Schloßscheibe. Komplette Neuspeichung der Räder, vor allem von Bodenrad und Hebstiftenrad.

2. Änderung 1. Hälfte 19. Jahrhundert.
Umbau auf Ankerhemmung und zweite Schlagwerksaus-lösung, Umbau der Zeigerwerkübertragung im Verhältnis 2:1.

3. Änderung Ende 19. Jahrhundert.
Das Werk wurde vermutlich vom Turm geworfen, oder ist unabsichtlich herunter gefallen. Das infolge des Sturzes stark verzogene Gestell wurde durch Ausschmieden (Verlängern) des linken Pfeilerfußes beim Gehwerk wieder standfest gemacht. Die vermutlich ebenfalls stark verzogenen Fialen wurden dabei abgeschrotet und als Konsolen für den Kurbelaufzug verwendet. Änderungen an der Pendelbrücke.

Diese technisch-formale Untersuchung in Abstimmung mit den aufgefundenen Archivalien der Stadt Schriesheim könnte eine ziemlich genaue Geschichte der Schriesheimer Turmuhr aufzeigen.

Miniatur „Horologium Sapientiae“, Paris 1406, Tropfnase und profilierter Pfeilerfuß am Eckpfeiler

Ich kann die Ansicht von Frau Direktor Brigitte Vincenz (Sammlung Kellenberger in Winterthur, Schweiz) voll bestätigen, daß die Schriesheimer Turmuhr vermutlich französischer Provenienz ist, bzw. aus dem Elsaß stammt. So wird der vorerwähnte Turmuhrmacher aus Worms, der die Schriesheimer Uhr geliefert hat, diese bereits gebraucht aus dem Elsaß bezogen haben.

Hier wäre in einschlägiger französischer Literatur nach Analogien, vor allem das Gestell betreffend, zu suchen. Fast idente formale und auch konstruktive Merkmale sind auf einer französischen Miniatur aus dem Buch „Le Livre d’Horloge de Sapience“ von Jehan de Souhade Velin aus dem Jahr 1406, in der Bibliothèque Nationale in Paris zu sehen. Deutlich erkennbar sind die Eckpfeiler der Miniatur mit quadratischem Querschnitt, den gotischen Tropfnasen und den profilierten Füßen. Diese stilistischen Merkmale sind ebenso wie das im Grundriß weitgehend quadratisch konzipierte Gestell mit dem erhöht angeordneten Räderwerk absolut ident mit der Konstruktion der Schriesheimer Uhr.

Eckpfeiler mit dem vernieteten und verkeilten oberen Gestellrahmen und der Abschroting der ursprünglichen Fiale

Die Miniatur einer französischen Übersetzung der Handschrift von Heinrich Seuse, das „Horologium Sapientiae“ entstand knapp ein halbes Jahrhundert später um 1450 (Bibliotheque Royal, Brüssel).  Sie zeigt auf der rechten Seite ein Gehwerk einer großen Hausuhr und links davon ein großes Glockenspielwerk. Die massiven Eckpfeiler der beiden Werke haben nicht mehr quadratischen Querschnitt und sind bei beiden Werken, wie ab der Mitte des 15. Jahrhunderts üblich, bereits schräg ausgestellt. Während die Profile der Tropfnasen der Werke weitgehend ident mit jenen der Schriesheimer Uhr sind, zeigen die Füße der Eckpfeiler nicht mehr ein rundum laufendes Profil, sondern sind, ebenfalls ein spätgotisches Merkmal, einseitig abgetreppt.

Analogien, sowohl formaler Details, als auch des konstruktiven Aufbaues der Schriesheimer Turmuhr können in die Zeit der Entstehung der beiden französischen Handschriften eingeordnet werden. Dazu kommt, daß diese Details zum Zeitpunkt ihrer Darstellung sicher bereits allgemein üblich waren, ihr Aufkommen also schon älter sein mußte, bzw. bekannt war. Hypothetisch kann also durchaus angenommen werden, daß die Schriesheimer Turmuhr, die ja auch französischer Provenienz ist, in er Zeit zwischen 1400 und 1450 entstanden ist.

Tropfnase am Eckpfeiler der Schriesheimer Turmuhr

Ein interessantes Beispiel wäre hier auch eine kleine gotische Konsoluhr, die sich heute im Depot des Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart befindet. Die quadratische Eckpfeiler, auch hier mit verzapftem und vernietetem Gestellrahmen, zeigen an den Eckpfeilern einen Anlauf zu geraden Fialen, wie sie bei der Schriesheimer Turmuhr noch zu sehen sind. Die schlanken, spitzen Kreuzblumen dieser Uhr wären auch bei der Schriesheimer Turmuhr denkbar. Die Entstehung dieser Uhr wird ohne weitere Präzisierung, oder Lokalisierung in das 15. Jahrhundert eingeordnet. Eine nähere Untersuchung dieses Exponates wäre auch im Zusammenhang mit der Forschung um die Schriesheimer Turmuhr von Bedeutung.

Profilierter Fuß am Eckpfeiler und der verkeilte und vernietete untere Gestellrahmen der Schriesheimer Turmuhr

Ein weiteres Vergleichsbeispiel wäre auch die Turmuhr aus Besançon von Herrn Beer, die in der Uhrmacherschule in Grenchen (CH) restauriert wurde. Obwohl diese Uhr in die Mitte des 16. Jahrhunderts datiert wird, zeigt sie ebenfalls massive, quadratische Eckpfeiler mit der spätgotischen Form der Kugel statt der Kreuzblume als Bekrönung und verzapfte und vernietete obere und untere Gestellrahmen. An der Uhr von Herrn Beer ist auch die ursprüngliche breite Form der Speichung mit geradem Abschluß zu sehen, wie er für ostfranzösische Turmuhren, bzw. solchen aus dem Elsaß in dieser Zeit typisch war. Diese breiten Speichungsansätze an den Radkränzen des noch aus Bauzeit im 15. Jahrhundert stammenden Boden- und Hebstiftenrades der Schriesheimer Uhr sind trotz der Neuspeichung im Zuge des Umbaues auf Spindelgang mit Kurzpendel, Ende des 17. Jahrhunderts noch deutlich erkennbar. Durch diesen Umbau, der bereits in Deutschland erfolgte, ging dann, vor allem durch die Neuspeichung der Räder mit schmalen Speichen, bzw. der Anfertigung neuer Räder, oder der Verwendung von Sekundärteilen deutscher Herkunft, die Charakteristik des Räder- und Hebelwerkes der französischen Provenienz verloren.

In der Sammlung der Uhrenstube befindet sich eine kleine Elässer Turmuhr mit spätgotischen Stilmerkmalen, die 1649 datiert ist und deren Räder ebenfalls diese breite Speichung aufweisen.

Lesen Sie hier Medienberichte:

RNZ 9.12.2008: „Eine ältere Uhr ist einfach nicht bekannt“

RNZ 28.1.2009: Die RNZ will die Turmuhr retten

Klaus Schlaefer: Turmuhrenfund in Schriesheim – Eine Sensation?

RNZ 29.1.2009: Die Stadt kaufte die Uhr im Jahr 1687 für 25 Gulden

RNZ 5.8.2009: Wie alt ist das Uhrwerk?

RNZ 1.9.2009: Zeit für neuen Glanz

Radio-Bericht SWR Radio Baden-Württenberg (mp3)

Kurier 15.10.2010: Ein Zeitzeuge pendelt im Stundentakt

RNZ 19.10.2010: Das alte Uhrwerk schlägt wiede